Ein Lebenswerk für psychisch kranke Kinder und Jugendliche - Biografie

Christian Eggers: Ein Lebenswerk für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Biografie.
Paranus Verlag 2015, 436 Seiten, Format DIN A4 Hardcover, nicht im VLB gelistet, keine ISBN, Profs 39,80 €.

Lange Reise zu den (Un-)tiefen

Vom Frühchen zum charismatischen Arzt: Die Memoiren des Psychiaters Christian Eggers.

Schizophren erkrankte Personen sind keine Monster sondern feinfühlige Menschen, die gerade in der Krise besonderer Unterstützung bedürfen. Das gilt natürlich vor allem, wenn sie jung sind und ihren Weg in Beruf und Gesellschaft erst finden müssen. Dafür, diese Botschaft zu verbreiten. hat sich der Arzt Christian Eggers sein ganzes Leben lang eingesetzt. Der emeritierte Universitätsprofessor und langjährige Leiter der Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Essen (NRW) wurde im August 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz 1 • Klasse ausgezeichnet, um sein Schaffen und seinen Einsatz für Benach-teiligte zu würdigen. Die im Paranus-Verlag erschienenen Memoiren des heute 76-Jährigen machen deutlich, dass sein Erfolgsweg zugleich ein steiniger Weg war und ist. Mehrfach hat sich der Arzt und Psychiater Christian Eggers ein Denkmal gesetzt Sein Wirken in der Kinderpsychiatrie, vor allem für schizophren Erkrankte, gipfelte in der Gründung einer Stiftung für jugendliche Patienten sowie in der Ausarbeitung zahlreicher Fachartikel und eines umfassenden und außergewöhnlich feinfühligen Fachbuchs (Christian Eggers: „Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters"; MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsges., 2011). Nun hat der engagierte Strftungsgründer auch seine Memoiren veröffentlicht - kern geschliffener Roman, eher ein Rohdiamant Auf Über 400 Seiten hat der Arzt seine Erinnerungen zusammengetragen, erlaubt dem Interessierten einen Blick in sein teils akribisch geführtes Tagebuch. Bescheiden formulien der Autor, dass er seine Biographie vor allem deshalb veröffentlicht. weil seitens seiner Stiftung der Wunsch an ihn herangetragen wurde. Eine kluge Entscheidung, denn für Mitarbeiter und Patienten ist und wird es immer von Interesse sein, wer der „Vater" dieser Einrichtung ist. Gerade in der Psychiatrie ist der Beruf immer auch Berufung, steht nicht nur eine Tätigkeit sondern vor allem die Persönlichkeit und ihre Hallung und Beziehungsfähigkeit im Focus. Eggers hat in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen auf einzigartige Weise einen Zugang zu den Betroffenen als faszinierende Menschen offengelegt Stets bewunderte er die Kraft, die die Betroffenen aufbringen, um mit ihrer Erkrankung zu leben. Aber auch den Angehörigen begegnete der Arzt auf Augenhöhe und ohne Abwertungen. Das sensible Gefüge von Beziehung, Persönlichkeit und ihrer Störungen erkennt Eggers wohltuend klar und formuliert dies auch in dem Buch deutlich, dessen roter Faden seine intensive Arbeit für und mit diesen Menschen ist. Kraft braucht der Autor dabei besonders. nicht nur, weil er sich vehement für die Patienten einsetzt, sondern auch, weil seine eigene Gesundheit wenig stabil ist. Als Frühgeburt prophezeite ihm eine rohe Hebamme bereits, er sei „nicht lebensfähig." Obwohl er diese Aussage mehrfach widerlegt hat, blieb und bleibt sein Alltag von vielen gesundheitlichen Tiefschlägen begleitet. Eine Nierener-krankung und die nachfolgende Transplantation überstand er, trotz teilweise falscher Behandlung und auftretender Infektionen. Seine Gesundheit ist durch die fortwährend notwendige Immunsuppression eingeschränkt, aber davon ließ sich der Arzt und Forscher nie unterkriegen. Auch jenseits seiner konkreten Arbeit, ist sein Lebensweg ermutigend und vorbildlich, denn aus jeder Krise rappelte sich der Arzt wieder auf. Er lebt so, wie es ihm zum jeweiligen Zeitpunkt möglich ist: Manchmal schieben ihn seine Doktoranden im Rollstuhl, manchmal schrateteranf Krückenzum Patienten-Interview-, viele Monate ist er im Krankenbaus oder zu Hause bettlägerig - aber immer hat er seinen Schreibtisch aufgeklappt und treibt seine Projekte voran. Er glüht für die Idee einer besseren Welt und tut im Rahmen seiner Fähigkeiten das Mögliche dafür. Die heute viel gerühmte Stiftung stieß zunächst im Umfeld auf wenig Gegenliebe. Es war nicht nur notwendig, Förderer zu gewinnen, sondern auch die rebellierende Nachbarschaft zu überzeugen, dass in dem Stiftungshaus keine „gefährlichen Verrückten" wohnen. Mittlerweile gibt ihm der Erfolg längst Recht: Die begleiteten Jugendlichen haben zum Teü bereits ihren Schulab-schluss gemacht, sich an eine Ausbildung gewagt und in ihrem Leben trotz Krankheit Sirm und Ziel erkannt. Außer den menschlichen Begegnungen mit Patienten, ärztlichen Kollegen, Philosophen, Theologen und Künstlern beschreibt Christian Eggers in seinen Memoiren eindrücklich, wie sehr ihm die Natur und schöne Landschaften ein Kraftquell sein können. Nicht nur einmal fallt das Wort „paradiesisch", und dabei wird dem Leser bewusst. dass sich der Autor trotz oder auch gerade wegen seiner vielfältigen Leiden ein hohes Maß an Empfrndungsfähigkeit bewahrt hat. Auch die Kunst ist eine stete Begleiterin seines Lebens. Eggers schüdert klassische Konzerte, die er besucht hat, Gemälde oder Skulpturen, die ihn berührt haben Allein, dass er sowohl die Titel der gehörten Stücke als auch die Interpreten fein säuberlich notiert hat, zeigt, welche Bedeutung er der Kunst beimisst Neben seinem Glück über Kunst und Musik - seit Jahren spielt er selbst Cello - treten jäh und unerwartet immer wieder seine Selbstzweifel und depressiven Gedanken hervor. So sehr das für ihn quälend sein mag, ist es zugleich Antriebskraft, sich nie mit dem Erreichten zufriedenzugeben. Dabei strebt Christian Eggers nicht nach Macht sondern nach Weiterentwicklung und echter Begegnung- Der unermüdüche Denker und. Arbeiter bedauert zwar mehrfach, dass er seine Wünsche nach Partnerschaft und Familie nicht verwirklichen konnte, zeigt aber in seinen Schilderungen zugleich anrührend, wie nahe ihm Kollegen, Patienten und andere Wegbegleiter stehen. Intensiv setzt sich Eggers auch mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander, beschreibt die Suche nach einer eigenen Position und die teils brüske Ablehnung seiner Kollegen, sich dieser ärztlichen Vergangenheit zu stellen und sie im Hinbück auf eine bessere Zukunft zu reflektieren Ein weiteres schmerzliches Feld der Auseinandersetzung ist seine Tätigkeit als Gutachter in schwerwiegenden Fällen, etwa dem Brandstif-tetprozess von Solingen. Klug differenziert Eggers dabei die Fähigkeit zu verstehen von der zu verzeihen Er legt dar, dass der Arzt sowohl das Leid des Opfers als auch das des Täters wahrnehmen und respektieren kann, aber dass etwas.das verstanden und nachempfunden wurde, dennoch verurteilt werden kann und muss. Eggers Memoiren bieten keine Lösungen für diese schwierigen ärztlichen Aufgaben, aber indem er sein Ringen offen darstellt, seine Unzulänglichkeiten eingesteht, eröffnet er Schülern und Nachfolgern, ohne erhobenen Zeigefinger, von ihm zu lernen. Das Buch ist in jedem Fall für (werdende) Psychiater interessant - wegen der zahlreichen Denkanstöße für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen, aber auch wegen der tiefen Einsichten in die Licht- und Schattenseiten eines Berufsbilds. Die Memoiren sind darüber hinaus für alle Menschen lesenswert, die sich für Biographien interessieren. Das Buch hat neben seiner Brillanz auch einige Schwächen, manche Zeitabschnitte sind etwas langatmig, andere dafür überraschend kurz gehalten. Einige Originaldokumente (Briefe. Fotos) sind nur in minderer Qualität gedruckt, die Sprache ist stellenweise vom ärztlichen Fachvokabular durchtränkt, dann wieder ungewöhnlich einfach gehalten. Auch wechselt der Text nicht immer stimmig zwischen Präsens und Vergan-genhdtsform, zwischen konkret zitierten Tagebuchzeilen und Erzählstil. Aber gerade diese Mischung macht den DIN A-4 Band wiederum spannend, lässt die Hintergründe ungeschönt hervortreten, in deren Verlauf sich aus einem zarten Frühgeborenen ein charismatischer Arzt entwickelt hat.

Verena Liebers in Eppendorfer 12/2015 & 1/2016